Bundestagswahl
22. September 2013

Der Nährwert von Prognosen
Erinnerungen an BTW 2005 und 2009

Bennett Merkel
Das ZDF-Politbarometer
hisst die weisse Flagge.

Das ZDF verheimlicht erstmals die wahren Ergebnisse und
legt gleichzeitig den statistischen Fehlerbereich offen.

Erstmals in der 37-jährigen Geschichte des ZDF-Politbarometers wird am 19. September eingeräumt - live im heute-journal -, dass die brandneuen Zahlen

Union 40%, SPD 27%, Grüne 9%, Linke 8.5%,
FDP 5,5%, AfD 4% , Andere 6%

so nicht ganz stimmen würden. Das erklärte der Moderator Theo Koll locker und dann legt er los als wäre das gar nichts Neues.

Auch Lieschen Müller ist etwas aufgefallen, denn sie ist nicht farbenblind:

Die gelbe FDP-Säule ist mit 5.5% dekoriert, sie ist aber deutlich kleiner als die blaue AfD-Säule, die mit 4% überschrieben ist. Die AfD witterte sofort Morgenluft. Im ZDF seien versehentlich die Rohdaten (tatsächliche Umfrageergebnisse) anstatt der geschönten Zahlen auf den Bildschirm gebracht worden. In der Branche werden bekanntlich seit Jahrzehnten nur geschönte Zahlen zur Sonntagsfrage publiziert.

Auf die Grafik angesprochen, liess Theo Koll in spiegel-online ausrichten, er sei nicht farbenblind, aber als Sprecher habe er sich auf den Text konzentrieren müssen. Das ZDF habe tatsächlich ein Software-Problem gehabt, räumte er ein, aber in der Zwischenzeit sei der Dachschaden repariert und die Grafik aus dem Internet entfernt und ersetzt worden.

Der Sprecher (Matthias Jung) des Datenproduzenten (Forschungsgruppe Wahlen) beteuert in spiegel-online, er hätte mit der ZDF-Grafik nichts zu tun. "Wir liefern die Zahlen in einem altertümlichen, aber verlässlichen Format." Er schloss ausdrücklich aus, dass versehentlich die Rohdaten gezeigt worden sein könnten. "Die laufen ausschließlich auf unseren Rechnern, das ZDF erhält sie nicht."

Da hat ihm sein Kurzzeitgedächtnis einen bösen Streich gespielt. Denn seit Jahrzehnten praktiziert die Forsche Truppe Wahlen bei der Sonntagsfrage doppelte Buchhaltung, sie erhebt die tatsächlichen Zahlen und schönt sie dann. Übrigens auf ausdrücklichen Wunsch des ZDF. In der live-Sendung des ZDF-Politbarometers werden seit vielen Jahren nur geschönten Zahlen zelebriert. Das reicht um die Zahlengläubigen in ihren Aberglauben zu bestärken. Für die Ungläubigen waren aber die tatsächlichen Zahlen in der Internetversion des ZDF-Politbarometers unter dem Pseudonym "politische Stimmung" aufspürbar. Sie werden vom ZDF von der homepage der Forschungsgruppe Wahlen automatisch übernommen, inklusive Kommentar zur Umfrage. Am 19. September 2013 verschwanden die tatsächlichen Zahlen auf der homepage der Forschungsgruppe Wahlen (FGW) und damit auch in der Internetversion des ZDF-Politbarometers - erstmals seit 37 Jahren.

Warum?? Noch in der Vorumfrage am 13. September wurden die tatsächlichen Zahlen von beiden veröffentlicht. Danach kam die FDP zum ersten Mal in diesem Jahr auf 5%. Im ZDF-Politbarometer wurde das zu 6% geschönt. Der Rückgang von 6% auf jetzt 5.5% erklärt sich von selbst. Die FDP war in der Umfrage wieder unter 5% gefallen, aber das wollte die Forschungsgruppe Wahlen zwei Tage vor der Wahl nicht offenbaren. Sie zog die Notbremse und stoppte kurzer Hand die Veröffentlichung der tatsächlichen Zahlen. Die 5.5% sind ein rein psychologischer Wert. Die Forsche Truppe Wahlen glaubt, dass die FDP die 5%-Hürde mit Hilfe von Zweitstimmen der Union sicher schafft und signaliert das mit 5.5% (und nicht mit 5%). Ob die Wähler mitspielen werden, wird man dann sehen.

Von all dem hat Theo Koll nichts mitbekommen. Bis zur Bundestagswahl würden noch zwei Tage vergehen, erklärt er aufgeregt, als hätte Lieschen Müller das nicht gewusst. Die Zahlen seien keine Prognose, betont er händeringend, sondern nur eine Umfrage. Die Stimmung sei volatil und viele Wahlberechtigte würden sich erst am Wahltag entscheiden. Auch betrage die hauchdünne Mehrheit von Schwarzgelb nur 1% und sei wegen der unvermeidbaren statistischen Fehlerbereiche nicht gesichert.

"Sadistische Fehlerbereiche???", fragt sich Lieschen Müller. Was ist denn das? Der Pädagoge Theo Koll erklärt ihr das auf seine Weise. Die 40% für die Union könnten auch etwas mehr oder weniger sein, für die andern Parteien sei das auch so. Der Fehlerbereich (Variationsbereich) betrage für die Union +/-3%, für die SPD +/-2.5%, für Grüne und Linke +/-2% und für FDP, AfD und Andere etwas weniger, sagen wir grosszügig +/-1.5%.
Wie die Fehler zustande kommen, verrät er nicht, falls er es denn selber weiss.



Da fällt bei Lieschen Müller der Groschen und sie merkt, dass die Union gar nicht auf 40% kam, sondern auf irgendwo zwischen 37% und 43% und entsprechend die anderen Parteien. Das Umfrage-Ergebnis lautet also in Wirklichkeit

Union 37% - 43%, SPD 24.5% - 29.5%,

Grüne 7-11%, Linke 6.5% - 10.5%,

FDP 4% - 7%, AfD 2.5% - 5.5% ,

Andere 4.5% - 7.5%

Das kann und will Oberlehrer Theo Koll so nicht über die Lippen bringen und erst recht nicht die Grafik-Säulen entsprechend beschriften, weil er damit das ZDF-Politbarometer lächerlich machen würde. Denn alle Parteien kamen auf irgendwo zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Nur, wer hat das nicht gewusst, wer braucht dafür das ZDF-Politbarometer? Lieschen Müller jedenfalls nicht. Und damit fällt es ihr wie Schuppen von den Augen, dass auch die großspurig im ZDF-Politbarometer verkündeten Trends

0% für Union, +1% für SPD, -2% für Grüne, -0.5% für FDP, +0.5% für Linke

reine Augenwischerei sind. Denn wenn die eingeräumten Fehler +/-2% bis +/-3% betragen, dann ist Angabe von Trends +0.5%, -0.5% +1% bzw. -2% absurd. Ob die Parteien seit der letzten Umfrage zugelegt oder verloren haben oder gleich geblieben sind, ist angesichts der Grösse der Fehlerbereiche völlig offen. Es ist gut möglich, dass die Union seit der letzten Umfrage um 4% gestiegen oder um 5% gefallen ist. Solche Sprünge kommen in den ungeschönten Ergebnissen öfters vor. Wenn z.B. in der Vorumfrage die Union 2% zu hoch gemessen wurde (der tatsächliche Wert war 38%, aber in der Umfrage wurden 40%gemessen) und in der jetzigen 2% zu tief (der tatsächliche Wert war 42%, aber in der Umfrage wurden nur 40% gemessen), dann hat die Union tatsächlich um 4% zugelegt, während die beiden Umfragen den Trend null vortäuschen. Fazit: Den Trend von einer Umfrage zur nächsten bestimmen die Zahlenfabrikanten des ZDF-Politbarometers in alleiniger Regie.

Wie entstehen diese statistischen Fehlerbereich, fragt sich Lieschen Müller. Die Umfrage sei doch repräsentativ. Das würde im ZDF-Politbarometer seit Menschengedenken behauptet. Auch hierüber klärt sie der Pädagoge Theo Koll auf. Es seien 1369 Wahlberechtigte befragt worden, diese seien aber zufällig ausgewählt worden.

Lieschen Müller schnappt nach Luft. Zufällig??? Das ist doch Unsinn! Dann hängen die Parteistärken ja davon ab, wer zufällig befragt wurde. Wären 1369 andere Wahlberechtigte ausgelost worden, dann hätte das Umfrageeregebnis ganz anders gelautet, z.B. 42% für die Union oder 37%, und 25% für die SPD oder 29% für die SPD usw. Ja, seufzt Schulmeister Theo Kroll, der mit seinem Demoskopen-Latein am Ende ist. Je nach dem welche Wahlberechtigte zur Befragung ausgelost werden, varieren die Parteistärken in den Bereichen

Union 37% - 43%, SPD 24.5% - 29.5%, Grüne 7-11%, Linke 6.5% - 10.5%
FDP 4% - 7%, AfD 2.5% - 5.5% , Andere 4.5% - 7.5%

Das ist, was statistische Fehlertoleranz im Klartext bedeutet. In Wirklichkeit sind die durch die Auslosung der Befragten verursachten Unsicherheiten weit grösser. Sie betragen für die grossen Parteien über +/-4% und die kleinen +/-2% bis +/-2.5%.

Das ist aber nicht das Ende der Fahnenstange. Weit mehr fällt ins Gewicht, dass die grosse Mehrheit der zufällig ausgewählten Befragten - ihre Festnetz-Telefonnummern werden ausgelost - bei Umfragen nicht mitspielt. Sie verweigern die Auskunft oder sind nicht erreichbar. Kein Wunder also, dass die tatsächlichen Zahlen öfters kurios aussehen. Denn die Umfrage-Abstinenten haben keinen Grund so zu wählen wie diejenigen, die gespannt zu Hause auf den Anruf der Forschungsgruppe Wahlen warten, um einem anonymen Interviewer den ausgefüllten Stimmzettel vorzulesen.

 

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