Bürgerschaftswahl 2004 in Hamburg

Ein Abenteuer für Demoskopen

Mit der Sonntagsfrage "Wie würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Bürgerschaftswahl wäre?", behaupten die Meinungsforscher, die politische Stimmung der Hamburger auszuloten. Wer "bezahlt", genauer wer sponsered Wahlumfragen und wer profitiert davon? Die Profiteure sind leicht auszumachen: Seilschaften von Medien und Meinungsforschungsinstituten. Die Zeche aber bezahlen die Dummen, die diesen Zahlen Glauben schenken oder sich gar bei ihrer Wahlentscheidung davon beeinflussen lassen.

Auftraggeber sind die Medien

Das Hamburger Abendblatt, der NDR, der Spiegel, der Stern und die Welt usw. Vor der Wahl fahren sie karrenweise Zahlen auf den Markt - wie in einem Schlußverkauf. Emsige Schreiberlinge und Klatschtanten spinnen wie frisch gefütterte Seidenraupen tolle Geschichten darum herum. Diese demoskopischen Ergüsse werden umgehend von ähnlich strukturierten Knalltüten aufgegriffen und auf deren Lautsprechern weiterverbreitet. Eine Ähnlichkeit mit Kettenbriefen und demoskopischem Spam ist unverkennbar. Politiker weiden das aufgetischte Zahlenfutter genüßlich aus oder reagieren frustriert-gequält darauf. Mangels demoskopischen Sachverstandes werden nicht wenige zu Jägern, andere zu Gejagten, wobei die Rollen je nach Umfrage vertauscht werden.

Süffigkeit von Prognosen

Niemand fragt, wie die Musterwähler für Umfragen zusammengetrommelt werden und nach welchen Rezepten ihre unsicheren Antworten zu knallharten Prozentzahlen für Schlagzeilen verarbeitet werden. Es wäre Aufgabe der Medien, auch darüber zu berichten, und nicht nur die Leser mit täglich frischen Rationen aus den Backstuben der Demoskopen zu füttern und der Zahlengläubigkeit Vorschub zu leisten. Aber das liegt definitiv nicht in ihrem Interesse, denn sonst würden diese Geschichten wie Autos mit zerstochenen Reifen davon holpern.

Wir leben in einer freien - aber nicht narrenfreien - Marktwirtschaft. Jeder Meinungsforscher hat das Recht, gegen "Bezahlung" einen Tipp zum Wahlausgang abzugeben und damit für Furore zu sorgen. Das kostet die Medien nicht viel und beschert den Meinungsforschern Gratisreklame für das viel wichtigere, kommerzielle Umfragegeschäft. Wie sie zu ihren Zahlen kommen, ist letztlich ihr Betriebsgeheimnis. Das Rezept für Cola light wird auch nicht preisgegeben. Marktentscheidend ist die Süffigkeit, und der Nährwert braucht nicht deklariert zu werden. Bei Wahlprognosen ist das genau so. Aber ein Unterschied besteht:

Wählertäuschung

Niemand hat das Recht, einen Tipp als das Ergebnis der Sonntagsfrage hinzustellen bzw. diesen Eindruck zu erwecken, wenn die tatsächlichen Resultate abgeändert werden. Das ist Wählertäuschung, aber bei Bundestagswahlen branchenüblich. Auch bei Landtagswahlen wird oft geschönt.

Offenlegung der Umfrageergebnisse

Es wäre Aufgabe der Politik, die Offenlegung der tatsächlichen Ergebnisse unter Angabe der ermittelten Wahlbeteiligung und der methodenbedingten Fehlerbandbreite durchzusetzen. Wenn eine Transparenz ähnlich der Preisanschreibepflicht eingeführt wird, dürfte sich das demoskopischen Treiben sehr bald beruhigen. Denn niemand wird sich für Umfrageergebnisse interessieren, die durch die Begleitmusik ad absurdum geführt werden: Durch abstruse Wahlbeteiligungen, die je nach Umfrage von 50% bis zu 90% variieren, und durch methodenbedingte Fehlerbandbreiten, die bis zu zwölf Prozentpunkte betragen können, zum Beispiel CDU 39 - 51%, SPD 24 - 36%. Ebenso müßte wie bei genetisch veränderten Lebensmitteln auf der "Verpackung" der Umfrage deutlich gemacht werden, daß die Umfrageergebnisse abgeändert wurden wurden (was meistens der Fall ist).

Ausgangslage

"Wenn die Schmerzgrenze erreicht ist, schreie ich", sagte Hamburgs Bürgermeister Ole von Beust der WELT am 5. Dezember 2003. Wenige Tage später war es soweit: "Jetzt ist finito", rief er an einer eilends einberufenen Pressekonferenz am 9. Dezember nachmittags aus und kündigte Neuwahlen für den 29. Februar 2004 aus. Die Koalition aus CDU (26%), Schill (20%) und FDP (5%), die dank dem unerwarteten Erfolg der Schill-Partei 2001 an die Macht kam und die 44-jährige Herrschaft der SPD ablöste, war an den Kapriolen von Ronald Schill zerbrochen. Das war das Fanal für die Politwetterfrösche.

Die erste Blitzumfrage: Rot-Grün gewinnt

Wenige Stunden nach der Pressekonferenz schaltete die ARD bzw. der NDR eine Sondersendung zur aktuellen Lage in Hamburg. An prominenter Stelle in der Sendung figurierte eine angeblich repräsentative Blitzumfrage von Infratest-dimap, nach welcher rotgrün mit 48% die Nase vor der CDU mit 40% hatte, während die FDP mit 4% aus der Bürgerschaft flog und Schill seine Haut mit 5% gerade noch retten konnte. Der Befreiungsschlag von Ole Beust hatte sich also nicht ausgezahlt. Wenn zwei sich streiten, freut sich der dritte - Rot-Grün.   Schaut man auf der Homepage von infratest-dimap nach, stellt sich die Geschichte allerdings ganz anders dar: Am 8. und 9. Dezember wurden 1000 wahlberechtigte Hamburger telefonisch befragt. Die Umfrage war also zum großen Teil vor der Pressekonferenz durchgeführt worden. Sie war alles andere als repräsentativ, denn die Telefonnummern der Befragten waren ausgelost worden. Deshalb steht Infratest-dimap für die in der ARD kolportierten Prozentzahlen auch nicht gerade und weist im Kleingedruckten auf die durch die Zufallsauswahl verursachten Fehlerbandbreiten hin. Das wird in der ARD aus Rücksicht auf die Einschaltquote unter den Teppich gekehrt. Das Resultat lautete nämlich nicht - wie in der ARD lauthals verkündet

CDU 40%
SPD 35%
GAL 13%
FDP 4%
Schill 5%

sondern, nach Übersetzung aus dem Demoskopischen ins Deutsche1:

CDU 37 - 43%
SPD 30 - 36%
Grüne 11 - 15%
FDP 2,3 - 5,7%
Schill 3,3 - 6,7%

Der Sieg von Rot-Grün löst sich also durch simple Nachfrage in ARD-Schall und NDR-Rauch auf. Fazit: Alles ist möglich und nichts ist unmöglich! Nur, wer hat das nicht gewußt, wer braucht dafür eine Umfrage oder gar eine Einschaltsendung in der ARD?

Abendblatt, Welt und Spiegel steigen ein

Nachdem ARD & NDR das Startsignal abgefeuert hatten, machte sich das Trio Hamburger Abendblatt, die Welt und der Spiegel auf die Socken. Sie bestätigten unisono den Sieg von Rot-Grün und trugen die FDP zu Grabe. Die Welt und der Spiegel zelebrierten zusätzlich eine Abschieds-Messe für Ronald Barnabas Schill. Die Zahlen von Psephos, Emnid und Infratest-dimap, auf denen diese Geschichten beruhten, waren unter Berücksichtigung der Fehlerbandbreiten und Wahlbeteiligung genau so nichtssagend wie diejenigen von ARD & NDR. Mit einem Unterschied allerdings: Die Welt wies darauf hin, dass lediglich die Hälfte der Befragten (53%) sich definitiv für eine Partei entschieden hätten und an der Wahl teilnehmen wollten.  Welchen Sinn hat eine Umfrage, bei der die Hälfte der Wahlberechtigten keine Angaben macht? Da entpuppen sich alle zuvor aufgetischten Prozentzahlen als reine Augenwischerei. Ferner räumt die Welt ein, dass die Prozentzahlen mit großen Fehlern behaftet sind. Die eingestandene Fehlerbandbreite beträgt angeblich 6% (d.h. ±3%), in Wirklichkeit ist sie weit größer. Die CDU legte also nicht von 26% (2001) auf 43% zu - wie in der Überschrift verkündet -, sondern auf irgendwo zwischen 40% und 46%. Die FDP kam nicht auf 4%, sondern auf 1 - 7% und Schill nicht auf 2%, sondern auf 0 - 5%. Von der Schlagzeile "Schill-Partei stürzt auf zwei Prozent" blieb nach diesem Eingeständnis jedenfalls nichts mehr übrig.

Stern: Absolute Mehrheit für die CDU

Mit dem Stern stieg am 17. Dezember ein weiteres Auflagen-Schwergewicht in den demoskopischen Ring und boxte der CDU eine absolute Mehrheit durch. Forsa - der Datenproduzent für Stern und RTL - punktete volle 46% für die CDU - gut 20% mehr als 2001.  Für Rot-Grün schauten mickrige 44 Prozentpunkte heraus, während die einstigen Regierungsfreunde FDP & Schill durch technischen KO  (5%-Hürde) ausschieden. Nun ist Forsa nicht eines der vielen Meinungsforschungsinstitute, sondern ein großer Umfragedampfer, der von SPD-Vollblutkapitän Manfred Güllner gesteuert wird.

Erinnerungen an die Wahl in Bremen

Irgendwie weckt dieser Coup Erinnerungen an die Bürgerschaftswahl in Bremen im letzten Mai, als Forsa knapp drei Wochen vor der Wahl unvermittelt die CDU der SPD vor die Nase setzte (38% versus 37%), was einen ungeheuren Wirbel in Bremen auslöste. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten alle Umfragen die SPD knapp vor der CDU gesehen. Der sehr populäre SPD-Bürgermeister Henning Scherf, der einer großen Koalition vorstand, die er fortführen wollte, hatte nämlich erklärt, daß er zurücktreten und das Feld Rot-Grün überlassen werde, falls die CDU die Wahlen gewinnt. Das brachte die CDU in die Zwickmühle. Sollte sie die Wahlen gewinnen, wie Forsa als einziges Institut voraussagte, drohte ihr der Gang in die Opposition. Der Ausgang des Spektakels ist bekannt: Aufgeschreckte CDU-Wähler desertierten in Scharen zur SPD. Die CDU sackte auf unter 30% ab, während die SPD zu einem Höhenflug auf über 42% ansetzte. Demoskopen und CDU leckten sich die Wunden. SPD-Vollblutkapitän Manfred Güllner aber dürfte sich ins Fäustchen gelacht haben.

Zurück zu Hamburg

Was hatte dieser Coup zur Folge? Verleitete er Ole von Beust dazu alles auf seine Kartei zu setzen und die FDP gegen die Wand zu fahren? Je-denfalls war und ist diese Strategie mit dem Risiko verbunden, dass im Falle eines Scheitern aller kleinen Parteien Rot-Grün die Nase vorn hat. Wie dem auch sei, hatte Manfred Güllner tatsächlich etwas in den Karten, das ihn zu diesem Coup berechtigte? Die Antwort ist einfach: Nichts, aber auch gar nichts. Laut Stern waren 40% der Wahlberechtigten noch unentschlossen und die übrigen votierten wie folgt (unter Berücksichtigung der Fehlerbandbreite, die im Stern immer liebevoll mit ±3% vermerkt wird).

CDU 43 - 49%
SPD 28 - 34%
Grüne 10 - 16%
FDP 1 - 7%
Schill 1 - 7%

Das Fazit ist dasselbe wie vorhin: Alles ist möglich und nichts ist unmöglich.

Gauklerauftritt beim Neujahrsempfang des Hamburger Abendblattes

Das Hamburger Abendblatt hatte am 9. Januar zum großen Neujahrsempfang im Hamburger Nobelhotel Atlantic geladen. Die ganze Hamburger Haute Volée hatte das Aufgebot erhalten. Etwa 1000 Nasen mit Rang und Namen - als Schicki-Micki eingekleidet und im Abendblatt namentlich aufgeführt -, gaben sich die Ehre und lauschten gespannt der Festansprache des Chefredakteurs Menso Heyl. Dieser hatte die Ergebnisse der neuesten Windmessung über der Alster angekündigt, was wegen des Gegenwindes aus Berlin, des Blasbalgs Schill und des Tiefs über der FDP kein leichtes Unterfangen ist. Hatte der politische Wind gedreht? Doch hören wir, was der Chronist des Abendblattes am nächsten Tag über den Auftritt seines Meisters berichtete:

"Ein Raunen ging durch den großen Festsaal des Atlantic Hotels, als Chefredakteur Menso Heyl in seiner Ansprache das Ergebnis der ersten repräsentativen Umfrage des neuen Jahres für das Abendblatt bekannt gab - sieben Wochen vor dem Urnengang am 29. Februar. Ungläubige Gesichter, verhaltener Beifall, Blässe auf manchen Mienen - je nachdem, wie das politische Herz schlug. Mit 47  Prozent hatte die CDU mit Ole von Beust in der vom Psephos-Institut durchgeführten Umfrage erstmals eine absolute Mehrheit. SPD (30 Prozent) und GAL (11 Prozent) fielen klar zurück. Alle andern waren unter der Fünf-Prozent-Hürde."

Der Auftritt des Chefredakteurs, der mit seinem Zahlenzauber mehr Aufsehen erregte, als wenn er ein weißes Kaninchen aus seinem Zylinder hervorgezauberte hätte, war also ein voller Erfolg. Ein kleiner Schönheitsfehler mag darin bestehen, daß die absolute Mehrheit der CDU schon drei Wochen vorher im Stern ausgerufen worden war. Doch soweit zurück reicht das Kurzeitgedächtnis der Schicki-Mickis glücklicherweise nicht. Auch störte sie nicht, daß der Chefredakteur die Anzahl der Befragten, die Wahlbeteiligung und die Fehlerbandbreite mit keinem Wort erwähnte. So ganz wohl war es ihm aber nicht bei der Sache. Jedenfalls erschien am nächsten Tag eine gut getarnte, kurze Notiz im Abendblatt, in welcher die mit großem Pomp verkündeten Prozentzahlen wieder abgesagt bzw. relativiert wurden. "1002 Hamburger nach ihrer Meinung befragt", lautete die Überschrift. Die Schwankungsbreite betrage durchschnittlich 2,6 Prozentpunkte und die maximale Abweichung liege bei 3,1 Prozentpunkten. Prozentzahlen wurden sicherheitshalber keine genannt, damit nicht ein Leser auf die Idee kommt, die Fehlerbandbreite für CDU und SPD selber auszurechnen (44 - 50% bzw. 27 - 33%). Damit war die absolute Mehrheit der CDU wieder vom Tisch, Rot-Grün durfte  hoffen und ebenso Ronald Barnabas Schill.  Und es war postum auch klar, daß im großen Festsaal des Atlantic Hotels ein Gaukler seinen Auftritt hatte.

Zahlenprostitution und ihre Zuhälter

Im alten Rom wurde das Volk mit Brot und Spielen bei der Stange gehalten. Heutzutage wird das mit Lotto- und Prozentzahlen besorgt. So wird in Medien vieles, was mit Zahlen nicht zu fassen ist, mit Make-up und Prozentzahlen zurecht geschminkt. Die Moral trieft förmlich aus der Zahlen-Schminke, und kein verantwortungsbewußter Zahlengläubiger kann sich dem entziehen. Das hat die Zahlenprostitution zum qualifizierenden Handwerkszeug in der Medienbranche gemacht, denn die Kundschaft fragt nie danach, wie die Zahlen zustande gekommen sind. Ohne Zahlenprostitution wäre vieles nicht machbar und würde von selbst aus den Schlagzeilen verschwinden. Bei dieser Sachlage ist eine kritische Auseinandersetzung mit Umfragen und Wahlprognosen in den Medien geradezu ausgeschlossen, denn von Zuhältern ist keine Kritik an der Prostitution zu erwarten, wohl eher ein Plädoyer für Gewerbefreiheit. So ist es nur logisch, daß in den Medien die Qualität der deutschen Demoskopie besungen wird, an Bänkelsängern fehlt es bekanntlich nie. Eine lockere Seilschaft von Demoskopen, Schreiberlingen und Plaudertaschen sorgt dafür, daß Fehlprognosen von den Medien wie Mißgeburten behandelt werden. Sie werden schnell und heimlich entsorgt, als hätten sie nie das Licht der Welt erblickt.

Situation im Januar und Februar

Die absolute Mehrheit für die CDU wurde in allen Umfragen im Januar bestätigt, ebenso das Aus der FDP und der beiden Schrill-Parteien. Der Vorsprung der CDU auf Rot-Grün war meist minimal. Unter Berücksichtigung der Fehlerbandbreite und dubioser Zahlen für die Wahlbeteiligung blieb alles offen. Im Februar änderte sich zahlenmäßig wenig - die CDU behauptete ihren knappen Vorsprung. Doch die Begleitmusik in den Medien änderte sich zusehends und es wurde eine Pattsituation herbeigeredet. Das scheint bequem und mit dem kleinsten Risiko behaftet. Aber der Schein trügt: Wie man in Bremen gesehen hat, kann man auch damit völlig daneben liegen. Die Kommentierung der Schlußphase des Wahlkampfs erfordert ein paar vorangehende Bemerkungen zur Methodik von Umfragen.

Grundsätzliches zur Fehlerbandbreite

Wie erklärt sich die Fehlerbandbreite bei Meinungsumfragen? Die meisten denken, dass das mit der Befragung zusammenhängt. Die ausgewählten "repräsentativen" Wahlberechtigten seien nicht zu Hause oder verweigerten die Antwort, sie seien noch unentschlossen oder machten falsche Angaben usw. Diese Fehlerquellen konstituieren zweifellos die potentielle Achillesferse jeder Umfrage. Das wird von Meinungsforschern oft bejammert - und regelmäßig ignoriert. Aber mit Fehlerbandbreite  meinen sie etwas ganz anderes, nämlich die Probleme, die sie sich mit der Art der Auswahl der "repräsentativen" Wahlberechtigten eingehandelt haben. 

Der Preis für die Zufallsauswahl

Aus Kosten- und Zeitgründen kann nur ein winziger Bruchteil der etwa 1,2 Millionen Hamburger Wahlberechtigten befragt werden. Für eine Umfrage werden etwa 800 bis 1000 Wahlberechtigte telefonisch interviewt. Deren Telefonnummern werden ausgelost. Für den Durchschnittsbürger passt das wie die Faust aufs Auge: Zufall ist für ihn das pure Gegenteil von "repräsentativ". Für Meinungsforscher hingegen stellt die Zufallsauswahl das Qualitätsmerkmal einer Umfrage dar, je zufälliger desto besser! Unter dieser Voraussetzung legitimiert nämlich die Statistik eine Hochrechnung von den ausgelosten Wahlberechtigten auf alle. Das ist jedoch an Bedingungen geknüpft, welche die Aussagekraft von Umfragen stark einschränken und viele Resultate wertlos machen. Dies trifft insbesondere auf die Sonntagsfrage zu. Da jede Auslosung von Wahlberechtigten zu anderen Ergebnissen führt, gibt es für jede Partei nicht nur eine, sondern ein ganzes Band von möglichen Prozentzahlen. Dem möchten die Meinungsforscher Rechnung tragen, indem sie eine Fehlertoleranz für große Parteien von etwa 6% angeben (d.h. +/-3%) und für kleine Parteien die Hälfte. Welche Zahl innerhalb der Bandbreite die richtige ist, lässt sich nicht feststellen. Bei dieser Berechnung der Fehlertoleranz verwenden die Meinungsforscher eine statistische Formel (Binomialverteilung), die eine Wahlbeteiligung von 100% voraussetzt und nur zwei Parteien zulässt. Das ist natürlich absurd. Bei sechs relevanten Parteien und einer Wahlbeteiligung von 50 - 70% - wie dies laut Umfragen gegenwärtig der Fall ist - beträgt die auslosungsbedingte Bandbreite für große Parteien über 10%, für kleine über 5%. Das kann man mit einer Computersimulation zeigen, indem man sehr viele Auslosungen durchführt und statistisch auswertet. Hat man z.B. in einer Umfrage für die CDU 45% ermittelt und für die SPD 30%, die Grünen 13%, die FDP 4%, DM+Schill 4%, dann lautet das Ergebnis

CDU 40 - 50%
SPD 25 - 35%
Grüne 9 - 17%
FDP 1,5 - 6,5%
Schill+DM 1,5 - 6,5%

So etwas gesteht natürlich kein Meinungsforscher ein und kann unmöglich veröffentlicht werden. Das ist zwar über 90% sicher, aber auch 100% banal.

Theoretisch müßten 100 000 befragt werden

Durch die Bekanntgabe von Umfrageergebnissen mit ganzen Prozentzahlen suggerieren Meinungsforscher und Medien eine Genauigkeit von einem Prozent (+/-0,5%). Selbst wenn man die großen Parteien nur auf zwei Prozent (+/-1%) genau schätzen wollte und die kleinen auf ein Prozent (+/-0,5%), dann müsste man nicht 1000 Hamburger befragen, sondern über 25 000. Will man die großen Parteien auf ein Prozent (+/-0,5%) genau schätzen, die kleinen auf ein halbes Prozent (+/-0,25%), so müsste man über 100 000 Hamburger befragen, also fast jeden zwölften Wahlberechtigten. (Wahlbeteiligung 60%, statistische Sicherheit 95%). Diese Angaben kann im Prinzip jedermann mit Hilfe des Programmes Misserfolgstatistik selber überprüfen, indem er die dort geforderten Angaben über Parteistärken, Wahlbeteiligung, Anzahl der Befragten und Anzahl Umfragen eintippt und das Programm laufen lässt (Das wird allerdings auch auf schnellen Rechnern ziemlich lange dauern). Fazit: Die Vermarktung von Umfrageresultaten ohne Angabe der Fehlerbandbreite ist so irreführend wie die Reklame einer Landeslotterie, durch den Kauf von Losen werde man Millionär.

Allerdings wäre es völlig zwecklos 100 000 wahlberechtigte Hamburger auszulosen und zu befragen. Denn damit würden lediglich die durch die Auslosung verursachten Fehler klein gemacht, aber die Fehler, die bei der Befragung entstehen, blieben bestehen: Die ausgelosten Wahlberechtigten sind nicht zu Hause, wenn sie angerufen werden, oder verweigern die Antwort, sie haben sich noch nicht entschieden oder sie machen falsche Angaben usw. Diese Fehler sind nicht quantifizierbar und hängen wie ein Damoklesschwert über jeder Umfrage.

Der Duft der Lottozahlen

Man muss sich dabei vor Augen führen, dass bei einer 50-60%-igen Wahlbeteiligung nur etwa 500 - 600 zufällig ausgewählte Wahlberechtigte verwertbare Angaben liefern. Es ist daher nicht überraschend, dass solchen Umfrageergebnissen der Duft von Lottozahlen anhaftet. Das Überraschende und Suspekte besteht vielmehr darin, dass fünf unabhängige Meinungsforschungsinstitute - Forsa, Psephos, Emnid, Infratest-dimap, Forschungsgruppe Wahlen - innerhalb kurzer Zeit mit Umfrageergebnissen aufwarten, die sich fast wie ein Ei dem andern gleichen, und ein Kopf-an-Kopf-Rennen und das Scheitern der kleinen Parteien verkünden. Bei einer Zufallsauswahl wäre das äußerst unwahrscheinlich. Selbst wenn die fünf Institute am Abend des 29. Februars aus den Wahlurnen 500 - 600 Stimmzettel zufällig auswählen dürften, so würden bei mindestens einer Partei eklatante Unterschiede auftreten. Für einen Mathematiker ist das ein Hinweis darauf, dass es sich um getürkte Zahlen handeln muss. So wie das Forsa- Chef Manfred Güllner in einem detaillierten Artikel mit dem bezeichnenden Titel "Der geschönte Wähler" erzählt hat. (Die Woche 1994). Frau Noelle-Neumann, die bekannteste Meinungsforscherin Deutschlands, hat sich öffentlich damit gebrüstet, dass sie an Umfrageergebnissen massiv herumdoktert:

"Zwischen dem, was wir an Rohergebnissen erhalten und dem, was wir als Prognose veröffentlichen, liegt manchmal eine Differenz von zehn oder elf Prozent." (Rheinischer Merkur, 11.09.1987)

Schlußphase des Wahlkampfs

In den letzten zwei Wochen lieferten die Meinungsforscher ein wahres Feuerwerk. Fünf Institute - Emnid, Forsa (zweimal), Forschungsgruppe Wahlen, Infratest-dimap und Psephos - produzierten folgende Zahlen, die als Umfrageergebnisse deklariert wurden:

CDU 45% 45% 47% 46% 45% 46%
SPD 30% 29% 29% 30% 29% 30%
GAL 14% 14% 13% 12% 14% 13%
FDP 4% 4% 4% 3,5% 4% 3%
Recht.Offens. 1% 1% - 1% 1% 1%
Schill+DM 3% 4% 3% 3,5% 3% 3%
Sonstige 4% 4% 4% 4% 4% 4%

Diese Zahlen wurden dann in der Welt, im NDR, im Stern, im ZDF-Politbarometer, im Hamburger Abendblatt, in der Hamburger Morgenpost breitgetreten und von Wiederkäuern aufgegriffen und weiterverbreitet (Focus und Spiegel usw.) Die frappante Übereinstimmung der Zahlen erweckt den Eindruck von Genauigkeit und Glaubwürdigkeit. Doch der Schein trügt. Die Unterschiede werden durch drei Faktoren verursacht: a) Die zeitliche Veränderung der Parteistärken innerhalb weniger Tage b) Befragungsfehler c) Lotterieschäden, die durch die Auslosung der Wahlberechtigten entstanden sind. Es wird nun gezeigt, daß diese Fehlerquellen weit größere Fehlern verursachen. Ein Schulmeister würde sagen, die Institute erinnerten ihn an Schüler, die bei einer Klassenarbeit einander über die Schulter gucken und die Zahlen ein bißchen variieren, damit es nicht auffällt.

Jedes Institut hat etwa 1000 zufällig ausgewählte Wahlberechtigte befragt, deren Telefonnummern ausgelost wurden. Die Wahlbeteiligung wurde mit etwa 60%, einmal mit 70% angegeben, d.h. jedem Institut standen die Antworten von etwa 600 oder 700 Wahlberechtigten zur Verfügung. Selbst wenn die Parteistärken konstant geblieben und keine Befragungsfehler aufgetreten wären, ist die Chance, daß bei der Auslosung von sechs mal sechshundert (bzw. siebenhundert) Wahlberechtigten Resultate herauskommen, die so nahe beieinander liegen, praktisch null. Die Computersimulation - es werden sehr oft sechs mal sechshundert (bzw. siebenhundert) Wahlberechtigte ausgelost und die auftretenden Unterschiede statistisch ausgewertet - liefert ein klares Verdikt: Hier wurde geschummelt, das ist zu schön um wahr zu sein. Diese Übereinstimmung hat keinerlei Aussagekraft für den Wahlausgang. Das Gegenteil ist der Fall: sie höchst irreführend.

Fazit

In einer Atmosphäre, die durch viele Faktoren unberechenbar geworden ist, haben die "Wahlforscher" gute Aussichten, sich eine blutige Nase zu holen. Denn das porträtierte Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen CDU und Rot-Grün und das Verschwinden der kleinen Parteien ist keine Einschätzung der aktuellen Situation auf der Basis von brauchbaren Daten, sondern der Ausdruck von Rat- und Hilflosigkeit in einer Situation, in die sie sich durch haltlose Versprechen mit ganzen Prozentzahlen manövriert haben. Es würde mich nicht wundern, wenn die Hamburger am Abend des 29. Februars in einer andern Landschaft aufwachen werden, als ihnen verheißen wurde. Whatever will be, let it be! Auch bei Hamburgs guten Nachbarn - den Bremer Stadtmusikanten - lief nicht alles nach Plan, und trotzdem sind sie wunschlos glücklich geworden. 

Wahlprognosen

k.I.=keine Information, k.A.=keine Angabe
Institut Internet-
Quelle
Befragte
(Antwortende2)
Fehler-
bandbreite
Datum CDU SPD GAL FDP Offens. ProDM Sonstige
Forsa Stern 1009 (k.A.) 6% 27.02.04 44% 30% 14% 4% 1% 4% 3%
Emnid Die Welt k.A. (60%) k.A. 26.02.04 46% 30% 13% 3% 1% 3% 4%
Forsa Stern k.A. (k.A.) k.A. 25.02.04 45% 29% 14% 4% 1% 3% 4%
Hamburger Morgenpost 1008 (k.A.) k.A.
Psephos Hamburger Abendblatt 1003 (k.I.) k.I. 24.02.04 46% 30% 12% 3,5% 1% 3,5% 4%
Forsch'gr. Wahlen ZDF 1008(59%) 3,2 bis 6% 20.02.04 47% 29% 13% 4% - 3% 4%
Infratest-Dimap NDR 1000 (k.A.) k.A. 18.02.04 45% 29% 14% 4% 1% 4% 3%
Hamburger Abendblatt k.A. (k.A.) k.A.
Forsa Stern 1002 (k.A.) 6% 17.02.04 45% 30% 14% 4% 1% 3% 3%
Hamburger Morgenpost 1002 (70%) k.A.
Forsa Stern 804 (k.A.) 8% 10.02.04 46% 29% 14% 4% 1% 3% 3%
Hamburger Morgenpost k.A. (k.A.) k.A.
Infratest-Dimap NDR 1000 (k.A.) k.A. 04.02.04 45% 30% 15% 3% 1% 3% 3%
Hamburger Abendblatt k.A. (79%) 2,8 bis 6,2%
Forsa Stern k.I. (k.I.) k.I. 03.02.04 48% 28% 13% 4% 1% 3% 3%
Hamburger Morgenpost 1001 (59%) k.A.
Emnid Die Welt 1000 (48%) 6% 02.02.04 46% 31% 12% 4% 2% 2% 3%
Infratest-Dimap NDR 1.000 (k.A.) k.A. 14.01.04 45% 30% 13% 4% 1% 4% 3%
Hamburger Abendblatt 1000 (81%) k.A.
Psephos Hamburger Abendblatt 1002 (k.A.) k.A. 09.01.04 47% 30% 11% 2% 2% 4% 4%
Forsa Stern k.I. (k.I.) k.I. 17.12.03 46% 31% 13% 4% 3% - 3%
NFO Infratest Der Spiegel 1000 (84%) k.A. 15.12.03 43% 33% 12% 4% 4% - 4%
Emnid Die Welt 1000 (53%) 6% 12.12.03 43% 37% 12% 4% 2% - 2%
Psephos Hamburger Abendblatt 808 (k.A.) k.A. 11.12.03 41% 36% 11% 3% 5% - 4%
Infratest-Dimap NDR k.A. (k.A.) k.A. 09.12.03 40% 35% 13% 4% 5% - 3%
Bruch der "Mitte-Rechts-Koalition" am 09.12.2003
Emnid Die Welt 1000 (k.A.) 6% 05.12.03 41% 35% 13% 3% 5% - 3%

  1. Im Original-Demoskopenjargon lautet dies wie folgt: Fehlertoleranz: 1,4* bis 3,1** Prozentpunkte (* bei einem Anteilswert von 5%, ** bei einem Anteilswert von 50%)
  2. Stimmwillige Wahlberechtigte mit definitiver Parteipräferenz