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Das folgende Interview wurde am 5. April 1996 in der Zeitung "Das Sonntagsblatt" veröffentlicht:

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Der Schweizer Statistik-Professor hält exakte Wahlprognosen für unmöglich

Herr Ulmer, die Ergebnisse der jüngsten Landtagswahlen wichen eklatant von den kurz zuvor veröffentlichten Prognosen aller Meinungsforscher ab. Überrascht Sie das als Statistik-Professor?
Fritz Ulmer: Nein! Wahlprognosen in der Bundesrepublik sind Wählertäuschung in wissenschaftlicher Verpackung.

Was machen denn die Meinungsforscher falsch?
Ulmer: Der Wurm liegt im sogenannten repräsentativen Querschnitt. Den gibt es nämlich gar nicht! Es ist unmöglich, aus allen Wahlberechtigten eine Gruppe von 1000 bis 2000 Personen auszuwählen, die repräsentativ für alle sind. Das kann man mathematisch beweisen.

Aber die Meinungsforscher machen das doch täglich. Wie kommen sie zu ihren sogenannten repräsentativ ausgesuchten Bürgern?
Ulmer: Sie nehmen alle Telefonbücher der BRD und suchen zufällig 1000 bis 2000 Nummern aus. Sie rufen an und fragen die Leute.

Egal, ob Männlein oder Weiblein, Angestellter oder Arbeiter? Und das Alter? Das Einkommen?
Ulmer: Das steht ja nicht im Telefonbuch! Natürlich blättern die Meinungsforscher heutzutage nicht mehr tagelang und legen dann irgendwo den Finger drauf. Die Telefonbücher sind auf CDs erhältlich. Die Auslosung erfolgt per Computer. Ähnlich wie das die Landeslotterien machen.

Dann sind Umfrageresultate Lottozahlen?
Ulmer: Nein. auch wenn das nach den letzten Wahlen so ausgesehen haben mag.

Wie groß ist die Chance, daß dieser bunt zusammengewürfelte "repräsentative Querschnitt" dasselbe Resultat liefert wie die Befragung aller Bundesbürger?
Ulmer: Wesentlich kleiner als eine Sechs im Lotto.

Dann sind Meinungsforscher also Lottospieler?
Ulmer: Nein, die Meinungsforscher verdienen immer. Das Risiko tragen die Dummen, die den wissenschaftlich verpackten Umfrageergebnissen Glauben schenken.

Was soll der Bürger mit Umfrageergebnissen anfangen ?
Ulmer: Das hängt von den gestellten Fragen und der erforderlichen Genauigkeit ab. Möchte man zum Beispiel wissen, welchen Rückhalt der Einsatz der Bundeswehr in Bosnien in der Bevölkerung hat, dann kommt es nicht auf ein paar Prozente an, sondern nur auf die Größenordnung, zum Beispiel 30 bis 40 oder 60 bis 70 Prozent. Bei der Frage nach den Parteistärken hingegen kommt es auf jedes Prozent an. Die Aussage, die SPD liege bei 30 bis 40 Prozent und die CDU/CSU bei 35 bis 45 Prozent, wirkt absurd. Das weiß jeder. Eine seriös durchgeführte Umfrage kann bei der Bosnien-Frage eine brauchbare Antwort liefern, bei den Parteistärken hingegen nicht.

Welchen Stellenwert haben Umfrageergebnisse vor einer Wahl, wonach die CDU/CSU 1,8 Prozent zugelegt und die FDP die 5-Prozent-Hürde überschritten habe?
Ulmer: Aussagen über das zeitliche Auf und Ab der Parteistärken haben reinen Horoskopcharakter. Was sich in Wirklichkeit abspielt, das weiß kein Mensch. Eine Meinungsumfrage ist ein viel zu grobes Instrumentarium für solche Fragen. Mit einer Elle aus Gummi kann man nun einmal keine Millimeterbruchteile messen.

Wovon hängt die Fehlerbandbreite bei Meinungsumfragen ab?
Ulmer: Primär von der Anzahl der ausgelosten Bundesbürger. Je größer die Anzahl, desto kleiner die Fehlermarge. Diese hängt jedoch auch von der Anzahl der gestellten Fragen ab. Je mehr Fragen und je mehr Antwortmöglichkeiten, desto größer die Fehlerbandbreite. Zum Beispiel beträgt sie bei je 1000 Interviews im Westen und Osten für die großen Parteien etwa acht Prozent und für die kleinen drei bis fünf Prozent. Eine Prognose auf wissenschaftlicher Basis muß also wie folgt aussehen: CDU/CSU 37 bis 45 Prozent; SPD 35 bis 43 Prozent; FDP 4 bis 8 Prozent, Grüne/Bündnis 90 5,5 bis 10,5 Prozent und PDS 2,5 bis 5,5 Prozent.

Könnte man die Fehlerbandbreite auf ein Prozent verkleinern?
Ulmer: Theoretisch ja, praktisch nein. Wenn man nicht tausend, sondern hunderttausend Wahlberechtigte befragte, dann wäre das rein statistisch gesehen möglich. Aber die durch die Auslosung verursachten Abweichungen stellen nicht die einzige Fehlerquelle dar. Die Meinungsforscher verschweigen, daß sie von über 50 Prozent der Angerufenen keine Information bekommen, weil sie nicht zu Hause sind oder keine Lust haben, eine halbe Stunde ausgefragt zu werden, oder weil sie sich noch keine Meinung gebildet haben. Diese Ausfallquote von über 50 Prozent ist die eigentliche Achillesferse jeder Meinungsumfrage.

Warum dürfen Meinungsforscher nicht andere befragen, um diese Ausfälle zu kompensieren?
Ulmer: Das ist nicht erlaubt, weil die Interview-Verweigerer, die nicht Angetroffenen und die noch Unentschlossenen trotzdem zur Urne gehen werden. Diese sehen keinen Grund, so zu wählen wie diejenigen, die zu Hause geduldig auf den Anruf eines Meinungsforschers warten, um ihm den ausgefüllten Stimmzettel vorzulesen. Es ist diese schweigende Mehrheit, die zum Trojanischen Pferd so mancher Umfrage wird. Dieser gigantische Unsicherheitsfaktor wird unsichtbar gemacht und er taucht bei der Präsentierung der Ergebnisse nicht mehr auf. Das ist der große Betrug der Meinungsforscher.

Sie schreiben in Ihren Veröffentlichungen, daß Meinungsforscher bei Wahlprognosen nicht das aktuelle Umfrageergebnis verwenden, sondern sich am letzten Wahlergebnis orientieren.
Ulmer: Das behaupte ich nur bei Bundestagswahlen, also bei der sogenannten Sonntagsfrage. Die Werte, die auf diese Frage veröffentlicht werden, reflektieren bei fast allen Instituten nicht das aktuelle Umfrageergebnis, sondern stellen eine Fortschreibung des letzten Wahlergebnisses dar.

Wie können Sie das beweisen?
Ulmer: Bei den im ZDF veröffentlichten Resultaten habe ich Zugang zu den Rohdaten. Da kann man sehr schön sehen, wie das gemacht wird. Übrigens brüstet sich Frau Noelle-Neumann öffentlich damit, daß sie ihre Umfrageergebnisse bis zu elf Prozent zurechtrückt, bevor sie die Öffentlichkeit damit beatmet. Bei solchen Abänderungen kann man getrost auf Umfragen verzichten. Die haben reine Alibifunktion. Vermarktet werden die Stammtischschätzungen der Wahlforscher.

Ist mit Meinungsumfragen Politik zu machen?
Ulmer: Natürlich. Vor allem im Wahlkampf mit Trendaussagen. Aber das Geschäft geht vor. Die Meinungsforscher wollen mit ihren Prognosen richtig liegen. Die erstaunliche politische Stabilität der Bundesrepublik ist die eigentliche Geschäftsgrundlage bei Prognosen - nicht die Umfragen. Die Parteistärken variieren von einer Bundestagswahl zur nächsten sehr wenig. Die Veränderungen sind kleiner als die Fehlermarge, die von der Auslosung herrührt. Deshalb fahren die Meinungsforscher besser, wenn sie das letzte Wahlresultat fortschreiben, anstatt aktuelle Umfrageergebnisse zu veröffentlichen. Sie sagen das nicht offen, sie reden von Gewichtungskunst.

Wie erkennt man, ob eine Umfrage oder Wahlprognose halbwegs seriös oder Kaffeesatzleserei ist?
Ulmer: Jedes Umfrageresultat, jede Prognose, welche nackte Prozentzahlen enthält, ist unseriös. Das ist reine Zahlenprostitution. Die Fehlerbandbreite und die Ausfallquote müssen angegeben sein. Ohne diese Angaben erhält man kein Bild vom Wert und der Aussagekraft der Umfrageergebnisse.

Was ist die Rolle der Medien?
Ulmer: Das sind die Vermittler, die Zuhälter der Zahlenprostitution.

Weshalb werden dann so viele Umfragen durchgeführt?
Ulmer: Wir leben im Zeitalter der Zahlengläubigkeit. Zahlen wirken objektivierend. Es wird nicht gefragt, wie sie zustande kommen. Solange den Meinungsforschern diese pseudoexakten Zahlen aus der Hand gefressen werden, wird sich daran nichts ändern. Das Unwissen der Zahlen-Hungrigen ist das Brot der Meinungsforscher.

Dann sollten die Meinungsforscher Ihre Vorlesungen besuchen?
Ulmer: Das werden sie erst dann tun, wenn die Auftraggeber ihnen die Umfrageergebnisse nicht mehr abnehmen. Die Datenhändler werden sich nicht freiwillig in den eigenen Speck schneiden. Das gehört nicht zu den Spielregeln in der freien Marktwirtschaft.

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