Das neueste ZDF-Politbarometer - splitternackt.

Am 27. Juni 2003 wurden im ZDF-Politbarometer die neuesten Umfrageergebnisse der Forschungsgruppe Wahlen e.V. zur Sonntagsfrage publik gemacht. Aus Kosten- und Zeitgründen kann nur ein winziger Bruchteil aller 60 Millionen Wahlberechtigten befragt werden. Die Forschungsgruppe Wahlen hat diesmal 1284 Wahlberechtigte vom 23. bis 25. Juni befragt, deren Telefonnummern ausgelost wurden. Das Umfrageergebnis lautete

Union 47%, SPD 30%, Grüne 9%, FDP 6%, PDS 4%

Offensichtlich ist es nicht repräsentativ für alle Wahlberechtigten, denn es hängt davon ab, welche 1284 Wahlberechtigten ausgelost wurden. Verschiedene Auslosungen führen zu verschiedenen Ergebnissen. Für jede Partei gibt es deshalb nicht eine Prozentzahl, sondern ein ganzes Band von möglichen Prozentzahlen. Welche Prozentzahl die richtige ist, läßt sich nicht feststellen. Für die Beurteilung des Informationswertes einer Umfrage ist es daher unerläßlich, diese Bandbreite für jede Partei zu kennen. Die Bandbreiten lassen sich mit Hilfe einer Computersimulation einer großen Anzahl von Auslosungen ermitteln: Für große Parteien 8% und für kleine 4%. Das Umfrageergebnis lautet dann nicht, wie im ZDF präsentiert, sondern

CDU/CSU SPD Bündnis90/Grüne FDP PDS
43 - 51 26 - 34 7 - 11 4 - 8 2 - 6

Berechnungsgrundlage: Wahlbeteiligung 80% und die Prognose soll mit einer Wahrscheinlichkeit von 95% richtig sein. Die weit größeren Fehlerquellen - wie z.B. falsche Angaben, Antwortverweigerung, erfolglose Kontaktversuche usw. - sind dabei nicht berücksichtigt.

Fazit. Das wahre Umfrageresultat hat keinen Informationswert, denn es läßt alles offen. Die SPD liegt zwar weit abgeschlagen hinter der Union zurück. Aber das Umfrageergebnis läßt die Möglichkeit offen, daß FDP und PDS an der 5%-Hürde scheitern und Rotgrün stärker ist als die Union.

In dieser ZDF-Politbarometer-Republik werden alle Parteien wunschlos glücklich, denn ein so wachsweiches Umfrageergebnis läßt sich biegen bis zum Geht-nicht-mehr. Die Parteien können sich nach Herzenslust daran bedienen. Ein genüßliches Beispiel:

1. Die Union schöpft bekanntlich gerne aus dem Vollen und beglückt sich mit 51% am "Umfrageergebnis von 43% bis 51%", was ihr die absolute Mehrheit beschert. Die restlichen 49% überläßt sie den "roten bis hellroten" Socken - PDS, Grüne und SPD - sowie den Sonstigen - graue Panther und FDP - zur freien Ausmarchung.

2. SPD und Grüne picken sich die Rosinen aus dem ZDF-Politbarometer-Kuchen etwas anders heraus: Sie bedienen sich mit 34% bzw. 11% am Umfrageergebnis und ergattern damit eine Regierungsmehrheit von 45%, was für die Fortsetzung ihrer Wackelkontakte gerade ausreicht. Denn FDP und PDS werden mit je 4% unter der 5%-Hürde versenkt, und die Union wird mit 43% unter dem Deckel gehalten.

3. Ist die FDP an der Reihe, dann verköstigt sie sich mit satten 8% am "Umfrageergebnis von 4% - 8%", wie das in der freien Marktwirtschaft üblich ist. Die Union hingegen wird mit 43% abgespiesen und damit am Gängelband gehalten. Den Rest (49%) überläßt die FDP den Nachfolge-Organisationen der Internationalen wie PDS, SPD und Grünen zur freien Ausmarchung. Damit hat die FDP die Forderung ihres Parteiprogrammes nach mehr Eigenverantwortung restlos erfüllt.

4. Auch die PDS kann in der ZDF-Politbarometer-Republik ihre kühnsten Träume in Erfüllung bringen: Sie verschafft sich mit 6% nicht nur den Wiedereinzug in den Bundestag, sondern versenkt als erstes die FDP mit 4% unter der 5%-Hürde. Dann verhilft sie der Union mit 43% zur Impotenz, während SPD und Grüne zusammen mit 42% in Schach gehalten werden (z.B. mit 32% und 10%), was zu einer Pattsituation zwischen Union und Rotgrün führt. Weil die Union mit Stoiber selbst mit Viagra nicht in ein Bett zu kriegen ist, in welchem die PDS mit Gabi Zimmer buhlt, findet sich Rotgrün unvermittelt am Gängelband der PDS. Damit geht ohne PDS nichts mehr in der Republik.

Im ZDF-Politbarometer werden die Umfrageergebnisse als genau präsentiert. Die neue Moderatorin Bettina Schausten - ihres Zeichens gelernte katholische Theologin und Leiterin der ZDF-Hauptredaktion Innenpolitik - erklärt am Schluß der Sendung jeweils lammfromm, die Forschungsgruppe Wahlen habe (etwa) 1250 zufällig ausgewählte Wahlberechtigte telefonisch befragt und deshalb seien die Umfrageergebnisse repräsentativ. Man darf wohl davon ausgehen, daß das ihre eigenen Worte sind, und daß sie nicht als Sprechblase für einen ZDF-Texter operiert, der im Hintergrund agiert. Dennoch verschluckt die sonst aufgestellte Gladiatorin in der ZDF-Politbarometer-Arena die Reizworte "zufällig ausgewählte" ziemlich oft, die bei einem hellhörigen Zuschauer Schluckbeschwerden oder gar hektische Darmaktivität auslösen könnten. Übrig bleibt, was sie rüber bringen möchte: Die Umfrageergebnisse sind repräsentativ und der Politbarometer-Zahlensalat ist nahrhaft und beschwerdefrei. Durchfall setzt in der Tat erst nach den Wahlen ein - wie das kürzlich bei den Wahlen in Bremen wieder der Fall war. Ihr Vorgänger, der promovierte Politologe Thomas Bellut, war bei der Wortwahl etwas vorsichtiger. Er wählte sinngemäß stets die Ausdrucksweise "Die Forschungsgruppe Wahlen hat (etwa) 1250 zufällig ausgewählte Wahlberechtigte telefonisch befragt. Damit ist die Befragung aussagekräftig für die wahlberechtigte Bevölkerung in ganz Deutschland."

Der Internetseite des ZDF-Politbarometers kann man allerdings entnehmen, daß davon keine Rede sein kann, und daß die Zahlen wegen der Zufallsauswahl höchst ungenau sind, was übrigens Dr. Thomas Bellut vor langer Zeit einmal in einer Politbarometersendung eingestanden und eigenhändig vorgeführt hat. Für große Parteien sollen die Fehler bis zu +/- 2,7% betragen, für kleine bis zu +/- 1,4% (siehe Infobox der Forschungsgruppe Wahlen am Schluß der langen, mittleren Textspalte des ZDF-Politbarometers). In Wirklichkeit sind sie weit größer, denn die Fehlerberechnung der Forschungsgruppe Wahlen ist falsch: Da wird klammheimlich vorausgesetzt, daß

Selbst wenn man nur diese eingestandenen Fehler in Rechnung stellt, dann müßte das Umfrageergebnis im ZDF wie folgt dargestellt werden (wie das Dr. Thomas Bellut einmal in einer Politbarometersendung getan hat)

CDU/CSU SPD Bündnis90/Grüne FDP PDS
44,3 - 49,7 27,3 - 32,7 7,6 - 10,4 4,6 - 7,4 2,6 - 5,4

Nur das möchte die versierte Seelenhirtin Bettina Schausten den Politbarometer-Gläubigen doch nicht zumuten. Wie groß wäre wohl ihre Einschaltquote, wenn sie Klartext spräche, anstatt von "repräsentativ" zu schwärmen?

Technische Information:

Die in der gelben Tabelle angegeben Fehler, die durch die Zufallsauswahl der befragten Wahlberechtigten verursacht werden, kann man auch als Laie mit Hilfe der Mißerfolgs-Statistik von Umfragen verifizieren. Man gibt in der Input-Spalte (linke Seite der Tabelle) die vom ZDF-Politbarometer angeführten Parteistärken

CDU/CSU 47, SPD 30, FDP 6, Grüne 9 und PDS 4 Prozent

ein. Im Block oben rechts gibt man als "Anzahl der Wahlberechtigten pro Umfrage" 1284 an - so viele Wahlberechtigte wurden laut ZDF-Politbarometer befragt - und setzt für die Wahlbeteiligung die üblichen 80% ein. Für die Anzahl der Umfragen (Auslosungen) wähle man zunächst 1000 (oder 10 000) - bei größeren Zahlen kann die Berechnung sehr lange dauern. Mit "LOS" wird die Simulation gestartet. In der untersten Tabellenzeile der "Mißerfolgsstatistik" kann man das Resultat der Simulation ablesen. Es zeigt sich, daß etwa

7% der Umfragen (Auslosungen) die Toleranzen von +/- 1% für die großen Parteien und +/- 0,5% für die kleinen einhalten

44% der Umfragen (Auslosungen) die Toleranzen von +/- 2% für die großen Parteien und +/- 1% für die kleinen einhalten

81% der Umfragen (Auslosungen) die Toleranzen von +/- 3% für die großen Parteien und +/- 1,5% für die kleinen einhalten

95% der Umfragen (Auslosungen) die Toleranzen von +/- 4% für die großen Parteien und +/- 2% für die kleinen einhalten

Detaillierte Resultate kann man der unten angeführten Tabelle entnehmen. Knapp 96% der Umfragen (Auslosungen) vermögen die Toleranzen von +/- 4% für große Parteien und +/- 2% für kleine einzuhalten. Aber 4% der Umfragen (Auslosungen) schaffen nicht einmal das. Mit andern Worten, in jeder fünfundzwanzigsten Umfrage (Auslosung) übersteigt der Fehler für eine große Partei +/- 4% oder für eine kleine Partei +/- 2%!

Scherzfrage: Wie viele von 100 Umfragen schaffen es, die von der Forschungsgruppe Wahlen vermarkteten Parteistärken (CDU/CSU 47, SPD 30, FDP 6, Grüne 9 und PDS 4 Prozent) zu treffen?

Scherzfrage: Wie viele von 10000 Umfragen schaffen es, die von der Forschungsgruppe Wahlen vermarkteten Parteistärken (CDU/CSU 47, SPD 30, FDP 6, Grüne 9 und PDS 4 Prozent) zu treffen?

Maximale Abweichung
eingehalten von
für große Parteien für kleine Parteien (in Prozent von 100000 Umfragen)
1,0% 0,5% 7%
1,2% 0,6% 12%
1,4% 0,7% 19%
1,6% 0,8% 27%
1,8% 0,9% 36%
2,0% 1,0% 45%
2,2% 1,1% 54%
2,4% 1,2% 63%
2,6% 1,3% 71%
2,8% 1,4% 77%
3,0% 1,5% 82%
3,2% 1,6% 87%
3,4% 1,7% 90%
3,6% 1,8% 93%
3,8% 1,9% 95%
4,0% 2,0% 96%
4,2% 2,1% 97%
4,4% 2,2% 98%
4,6% 2,3% 99%
>4,6% >2,3% 1%
Grundlage der Simulation: 100000 Wiederholungen, Parteistärken laut Politbarometer vom 27.6.2003, ebenso Stichprobenumfang (1284) und Wahlbeteiligung (80%).