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Süddeutsche Zeitung, 30. April 2002

Spiel mit verdeckten Karten

Die Methoden der Meinungsforscher sind undurchsichtig und die Wähler zunehmend unberechenbar


Von Tobias Hürter

Die Umfragen zeigten eine große Koalition. Am Wahlabend in Sachsen-Anhalt war dann die Verblüffung groß: bei Siegern, Verlierern – und Wahlforschern. Die Möglichkeit einer schwarz-gelben Koalition hatte niemand vorhergesehen. Noch in der letzten, am Freitag vor der Wahl veröffentlichten Umfrage hatte das Berliner Forsa- Institut eklatant neben dem Wahlergebnis gelegen.

Noch größer war der Schock in Frankreich: Zwei Tage vor der ersten Runde der Präsidentschaftswahl hatte das Pariser Umfrageinstitut Ipsos Premierminister Lionel Jospin sichere vier Prozentpunkte vor dem Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen gesehen. Doch in der Stichwahl am kommenden Wochenende wird Le Pen statt Jospin gegen den Amtsinhaber Jacques Chirac antreten.

Die Meinungsforscher sehen dennoch wenig Grund, ihre Methoden zu überdenken. „Das waren keine Prognosen, sondern nur momentane Stimmungsbilder“, erklärt Forsa-Chef Manfred Güllner zu Sachsen-Anhalt. „Unmittelbar vor der Wahl wusste ein Viertel der Wähler nicht einmal, dass überhaupt Wahlen stattfinden“, sagt Güllner. Für die Demoskopen wird die Unstetigkeit der Wähler zunehmend zum Problem, denn sie verkaufen ihre Zahlen durchaus mit dem Anspruch, das Verhalten der Wähler vorauszusagen: „Wenn am nächsten Sonntag Wahlen wären...“, heißt es in der „Sonntagsfrage“. Was als Ergebnis in den Medien präsentiert wird, ist jedoch nicht nur die statistische Zusammenfassung der Antworten. Die „Rohdaten“ werden vielmehr stark überarbeitet, geknetet und gebürstet, bevor sie veröffentlicht werden.

Es beginnt mit der Zahl der Befragten: Meist sind es zwischen 1000 und 2000 zufällig aus dem Telefonbuchausgewählte Personen, die als repräsentativ für die Gesamtbevölkerung gelten. „Zu wenig“, kritisiert der Statistiker Helmut Küchenhoff von der Universität München, „beim Ergebnis großer Parteien muss man dann mit Fehlermargen von bis zu drei Prozent punkten rechnen. Oft wird aber schon eine Schwankung von einem Prozentpunkt als politischer Trend ausgewiesen.“ Wenig Wunder, dass die Institute die Verlässlichkeit ihrer Zahlen allenfalls im Kleingedruckten nennen.

Um Tendenzen im Prozentbereich zu erfassen, sind mindestens 10000 Interviews nötig. Diesen Aufwand betreiben die Demoskopen allenfalls bei so genannten Exit Polls, in denen Wähler direkt nach der Stimmabgabe befragt werden. Dies mündet in die Prognose, die nach Schließung der Wahllokale veröffentlicht und in Hochrechungen aktualisiert wird. Auf deren Basis haben die Wahlverlierer Jospin und Reinhard Höppner ihren Rückzug aus der Politik verkündet.

Wesentlich ist auch die Befragungsmethode. Während die drei fürs Fernsehen tätigen Institute Infratest-dimap, Forsa und Forschungsgruppe Wahlen die Bürger per Telefon befragen, stützt sich das Institut für Demoskopie (IfD) in Allensbach auf ein Netz von Interviewern, die in ihrem weiteren Bekanntenkreis in stundenlangen Gesprächen die politische Stimmung erkunden. Dabei folgen sie festgelegten Quoten, welches Alter oder Einkommen ihre Interviewten haben müssen. „So erreichen wir auch Leute, die bei anderen Instituten den Hörer auflegen“, sagt Edgar Piel vom IfD. Und immerhin erkennt auch die Konkurrenz an, dass vor der letzten Bundestagswahl die besten Zahlen aus Allensbach kamen. Für Sachsen-Anhalt allerdings wagte das IfD keine Prognose.

Ist die Vorauswahl getroffen, beginnt die eigentliche Kunst. Die Demoskopen brauchen Tricks, um den Befragten eine Wahlentscheidung zu entlocken, die diese oft noch gar nicht getroffen haben: Hierzu müssen die Interviewten Politiker erkennen, Sympathie-, Kompetenz- und Vertrauensnoten geben, Parteien und politische Themen auf Skalen ordnen. Sie müssen auch angeben, welche Koalition sie am liebsten hätten und was sie bei der letzten Wahl gewählt haben – die so genannte Recall-Frage. Daraus destillieren die Demoskopen eine „längerfristige Grundüberzeugung“, auf deren Basis sie das Rohergebnis der Sonntagsfrage nach streng gehüteten Geheimrezepten „gewichten“.

Auf direktem Weg sind politische Präferenzen kaum zu erfahren. In Kontrolluntersuchungen stellten Demoskopen fest, dass Reihenfolge und Formulierung der Fragen das Ergebnis verzerren können. Und ein beträchtlicher Anteil der Befragten lügt – besonders Anhänger extremistischer Parteien. Auf die vom Berliner Infratest-dimap-Institut in Sachsen-Anhalt geradeheraus gestellte Recall-Frage wollte sich anfangs nur ein Prozent der Befragten dazu bekennen, bei den Landtagswahlen 1998 DVU gewählt zu haben; tatsächlich war die rechtsradikale Partei damals auf 12,9 Prozent gekommen. „Dann formulierten wir die Frage diplomatischer, und aus einem Prozent wurden schließlich acht“, sagt Richard Hilmer, der Geschäftsführer von Infratest-dimap. Die französischen Wahlforscher erklären ihren jüngsten Fehlgriff ähnlich: „Ein bisschen zu hoch“ habe man die „Bekenntnisbereitschaft“ der Le-Pen-Wähler eingeschätzt, bekannte Ipsos gegenüber der Zeitung Le Monde.

Auf welchem Weg die Demoskopen von den Rohdaten einer Erhebung zur veröffentlichten Prognose kommen, bleibt Betriebsgeheimnis der Institute – fast so streng gehütet wie das Coca-Cola-Rezept. Der Statistiker Friedrich Ulmer von der Universität Wuppertal zweifelt, dass es dabei nur streng wissenschaftlich zugeht: „Die Wahlforscher nehmen meist das alte Wahlergebnis und schreiben es behutsam fort. So lange die politischen Lager stabil sind, funktioniert das.“ Umschwünge wie in Sachsen-Anhalt sind so kaum zu prognostizieren.

Dennoch befürchten die Demoskopen bei der Bundestagswahl im Herbst kein Debakel wie in Sachsen-Anhalt. „Die höhere Wahlbeteiligung erlaubt bessere Prognosen“, sagt Forsa-Chef Manfred Güllner. Manche seiner Konkurrenten sehen das anders: „Die Instrumente bleiben zwar gleich, doch wir justieren sie neu“, erklärt Richard Hilmer von Infratest-dimap. „So wissen wir jetzt besser, welche Themen wichtig sind.“

Hilmer räumt aber ein, dass sein Geschäft immer schwieriger wird: „Die Wähler reagieren immer schneller und sensibler“, sagt er. Bei der Bundestagswahl 1998 haben sich – laut Umfragen – 16 Prozent der Wähler erst am Wahltag für eine Partei entschieden. „Das werden wir im September wieder sehen“, glaubt Christina Holtz-Bacha vom Institut für Publizistik der Universität Mainz. „Da kann ein Fernsehduell ein paar Tage vorher den Ausschlag geben.“ Mit diesem Wissen hat Edmund Stoibers Wahlkampfmanager ein kurz vor der Wahl geplantes Fernsehduell vorverlegt.

Je näher die Wahl rückt, umso enger binden sich Politiker an die Demoskopie: „Nie ist der Zusammenhang zwischen politischen Handeln und Meinungsumfragenso groß wie vor Wahlen“, hat der Augsburger Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider beobachtet: Vorschläge fraglicher Popularität werden oft von Politikern aus zweiter Reihe probeweise lanciert und im Wahlkampf benutzte Formulierungen werden in Kleingruppen potenzieller Wähler gezielt auf ihre Wirkung getestet. Doch sogar Infratest- Chef Hilmer warnt: „Wenn Politiker nur unseren Ergebnissen hinterherrennen, landen sie im Irrgarten.“

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